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Die Zukunft des Orchesters
JOURNALIST: Wie sehen Sie die Zukunft des Orchesters?

PETER HÜBNER: Das Symphonie-Orchester hat meines Erachtens für neue Musik keine Zukunftschance. Es wird verschwinden, wie die Dinosaurier verschwunden sind. Mit der modernen Digitaltechnik ist eine Technologie entstanden, die ganz andere Möglichkeiten bietet als das konventionelle Orchester.

Man darf nicht vergessen: über 90% dessen, was heute unter dem Namen Musik über den Äther rauscht, hat den konventionellen Musiker nicht gesehen. Im Moment betrifft dies noch mehr oder weniger die Pop- und Unterhaltungsmusik – aber es ist nur eine Frage der Zeit, daß diese Entwicklungen auch auf die Klassik übergreifen und dort beachtliche Leistungen der Interpretation hervorbringen, die all das, was wir heute so als Interpretation klassischer Musik mit dem konventionellen Orchester kennen, in den Schatten stellen.

Doch auch hier dürfte dieser genannte Vorteil künstlerischer Leistung für die Abschaffung des Symphonieorchesters nur die Nebenrolle spielen; denn wie schon vorher erwähnt, ist die Mitwirkung im konventionellen Orchester stark gesundheitsgefährdend.

Zum einen wird dem Musiker im Orchesterlärm das Gehör geschädigt. Der Orchesterlärm übersteigt das medizinisch zulässige Maß bei weitem – mit 135 Dezibel um das 32fache.

Zum anderen verlangt die Mitwirkung im Orchester vom einzelnen Musiker ein übergroßes Maß an Konzentrationsfähigkeit; denn bei der Aufführung harmonischer Musik – was die gesamte Klassik betrifft – wird ein einziger falscher Ton eines einzigen Musikers sofort von allen wahrgenommen.

Diesen Druck hält der Musiker nicht lange aus. Das System des heutigen Orchesters bringt es mit sich, daß Fehler eines Dirigenten vom Publikum überhaupt nicht wahrgenommen werden. Und dennoch hat er sich im Laufe der Zeit zu jener Institution hochgespielt, die darüber wacht, daß auf seiten des Musikers kein Fehler gemacht werden darf. Und kommt es bei einem Musiker öfters vor, daß er einen falschen Ton spielt, dann kann er sich eine andere Arbeit suchen. Insofern steht der Musiker des Orchesters permanent unter Streß.

Er hat Familie, er hat Kinder, für die er sorgen muß, er hat auch seine persönlichen Sorgen und Nöte wie jeder andere, aber er muß völlig fehlerfrei arbeiten. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen.

Die Erkenntnis dieses Systems des konventionellen Orchesterapparates und jener perversen Aufführungssituation, die die menschlichen Unzuläng-lichkeiten einfach ignoriert, treibt den Musiker schrittweise in die Frustra-tion, und zusammen mit der immer größeren Belastung im zunehmenden Alter treibt sie viele von ihnen zum Alkohol, zur Aufputschdroge oder zur Medikamentensucht.

All das zusammen macht ihn schließlich krank. Dies gilt ganz besonders auch für die Frauen im Orchester, die im allgemeinen noch sensibler sind, als die männlichen Mitglieder ohnehin schon sind, und die deshalb der Streßbelastung noch weniger gewachsen sind.

Man darf nicht vergessen: der Orchesterapparat ist eine Reliquie aus Zeiten der Diktatur. Aus diesem Grunde war historisch die Frage nach der Freiheit des Musikers, nach seinem Wohlbefinden, nach seiner Gesundheit und nach seiner Überforderung, nach seiner psychischen Belastung und nach seiner Frustration kein Thema.

Er mußte funktionieren wie der Soldat. Heute ist das anders. Heute muß man sich in der demokratischen Welt sehr wohl um die Gesundheit des Soldaten kümmern, und dasselbe wird man auch beim Musiker des Orchesters tun müssen.

Aber spätestens mit der Frage nach der Gesundheit des Musikers und ihrer medizinischen Antwort findet das konventionelle Symphonieorchester – zumindest so, wie es heute funktioniert – sein Ende.

Das bedeutet deshalb aber nicht zwingend notwendig das Ende des Musikers. Hier tut sich ein riesiges Feld von digitalen Möglichkeiten vor ihm auf, und wenn er genügend Liebe zur Musik in sich trägt und Weltoffenheit, dann wird er lernen, sich diese Mittel zunutze zu machen, und er wird Interpretationen hervorbringen, die die Hörer in positives Erstaunen versetzen.

In diesem Falle wird er zum freien Mittler zwischen dem klassischen Musikschöpfer und dem Hörer – ohne irgendwelche Kontrolleure.

Die Musikausbildungsstätten, also die Musikhochschulen, Musikakade-mien und Konservatorien, sind auf diese Situation überhaupt nicht vorbereitet – dies ist vielleicht auch besser so. Dann können sie diesen Entwicklungsgang auch nicht in inkompetenter Weise stören.

Aber deshalb wird dieser Prozeß gleichzeitig auch das Ende dieser Musikanstalten mit sich bringen. Somit hat sich dann auch auf natürliche Weise Ihre Frage erledigt: „kann man Musik an einer Ausbildungsstätte lehren?“

Ich kann mich noch erinneren: als ich klein war, strebten viele Menschen ins Ruhrgebiet wie in das gelobte Land, um dort am gewinnträchtigen Kohleabbau teilzunehmen. Diese Goldgräberstimmung ist nicht nur längst verflogen, sondern andere Entwicklungen haben den dortigen Kohleabbau so überrollt, daß diese Menschen heute vor großen Problemen stehen, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen sollen.

Dieses ganze Szenarium vom Beginn über die Blütezeit bis zum Ende hat noch keine 50 Jahre gedauert, und niemand wird anzweifeln wollen, daß nach dem heutigen Stande der Erkenntnis der konventionelle Kohlebergbau im Ruhrgebiet keine Zukunft mehr hat.

Ganz Entsprechendes gilt für das Symphonieorchester bzw. für das Opernorchester – nur daß hier das künstlerische Aus nicht die maßgeben-de Komponente sein dürfte, sondern das Aus wegen gesundheitlicher Gründe.

Die Zukunft des Orchesters ist somit kein musikalisches oder künstlerisches Problem, sondern ein medizinisches.

Und in einer Zeit, die sich um eine allgemeine Verringerung der Kosten im medizinischen Bereich bemüht, wird diese Bemühung vor dem Orchester nicht Halt machen.

Wie der Kohlebergbau im Ruhrgebiet heute noch in seinen letzten Zügen von außen künstlich subventioniert wird und Diskussionen über das Ende der Subventionen die Gemüter erhitzen, so wird auch das Symphonie- oder Opernorchester heute von außen künstlich subventioniert, und mit der Diskussion über die Subventionen ist auch deren Ende eingeläutet.

In diese Entwicklungen sind viele Einzelschicksale verstrickt – im Kohle-bergbau wie im Symphonieorchester –, aber es nützt nichts, wenn wir uns gegenüber den Tatsachen der Neuentwicklungen verschließen.

Es ist viel lohnender, sich rechtzeitig darauf einzustellen und sich umzustellen. Es hat vor dem Sinfonie- und Opernorchester schon Musik gegeben und danach wird es auch Musik geben. Hier gibt es also keinen Anlaß, etwa die Musik zu betrauern.Hübner

                   
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PETER HÜBNER
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